Ende November veröffentlichten die SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP den Koalitionsvertrag. Wo die Ampelkoalition aus entwicklungspolitischer Sicht nachlegen muss, erklärt Klaus Seitz, Abteilungsleiter Politik bei Brot für die Welt.
Der neue Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP steht unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“. Wieviel Fortschritt wird tatsächlich gewagt?
Mit dem Vorhaben, eine ökologische Transformation der Wirtschaft einzuleiten und Deutschland auf einen klimafreundlichen Pfad zu bringen, nimmt die Ampelkoalition in der Tat umwelt- und klimapolitischen Schwung auf, den die vorherige Bundesregierung zuletzt vermissen ließ. Wenn die neue Regierung ihre Politik daran ausrichten will, dass Deutschland den angemessenen Beitrag dazu leistet, die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, dann braucht es dafür energische Weichenstellungen. Ob es klug ist, dies unter das Motto „Fortschritt“ zu stellen, möchte ich allerdings eher bezweifeln. Schließlich wird in weiten Teilen der Welt vieles von dem, was als „Fortschritt“ angekündigt wurde, letztlich als Ursache der Klimakrise erfahren.
Gibt es Punkte im Koalitionsvertrag, bei denen Sie sagen würden: Das ist eine Überraschung!
Eine Überraschung ist auf jeden Fall die Ansage, bis zum Jahr 2030 den Anteil des Ökolandbaus in Deutschland auf 30 Prozent erhöhen zu wollen. Das haben wir nicht erwartet. Für die längst überfällige Agrar- und Ernährungswende ist aber genau das nötig. Der Anteil des ökologischen Landbaus an der landwirtschaftlichen Nutzfläche liegt derzeit bei mageren 10 Prozent. Die zweite positive Überraschung war, dass ein wichtiges Anliegen, für das wir schon lange gemeinsam mit internationalen Partnern eintreten, Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat: Länder im globalen Süden mit dem Aufbau sozialer Sicherungssysteme im Kampf gegen die Armut zu unterstützen. Die neue Bundesregierung plant zu diesem Zwecke einen Global Fund for Social Protection. Das ist ein enorm wichtiges Instrument gegen die dramatischen sozialen Verwerfungen, die sich im Zuge der Corona-Krise noch weiter verschärft haben.
Es gab ja lange Diskussionen, ob das Bundesministerium für wirtschaftliche und Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) auch zukünftig erhalten bleibt...
Ja, das war keineswegs sicher und ist bis zuletzt kontrovers diskutiert worden. Hätte die neue Bundesregierung das BMZ abgeschafft, hätte es die Bedeutung der Entwicklungspolitik deutlich geschwächt. Mit der Zusage, dass zukünftig mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben werden sollen und davon mehr als ein Drittel an die ärmeren Länder (LDCs) geht, dürfte dieses Politikfeld zukünftig eine weitere Stärkung erfahren. Die neue Bundesregierung will das multilaterale Engagements Deutschlands in der Welt ausbauen. Ausdrücklich wird die weitere Förderung der Zivilgesellschaft und der Arbeit Kirchen betont. Eines der drängendsten Probleme unserer Zeit ist ja die Klimakrise.
Halten Sie die geplanten Maßnahmen der neuen Regierungskoalition für ausreichend und schnell genug?
Die neuen Ausbauziele für die erneuerbaren Energien sind ebenso wie der damit verbundene Kohleausstieg bis 2030 wichtige Schritte zur Emissionsreduktion. Ob es mit diesen und anderen vereinbarten Maßnahmen gelingt, Deutschland auf einen mit dem 1,5 Grad-Limit kompatiblen Pfad zu bringen, bezweifle ich aber. Hier wird die Regierung nachlegen müssen. Sehr bedauerlich finde ich zudem, dass dem Anliegen der globalen Klimagerechtigkeit darüber hinaus im Koalitionsvertrag kaum Tribut gezollt wird. Zwar bekennt sich die Koalition dazu, den deutschen Anteil zu den für die internationale Klimafinanzierung zugesagten 100 Milliarden Dollar jährlich aufzubringen und zu erhöhen – dazu, wann und in welchem Umfang dies geschieht, sagt sie freilich nichts. Und die Frage des Umgangs mit den Schäden und Verlusten, die viele besonders verletzliche Staaten infolge des Klimawandels bereits jetzt erleiden, ist noch nicht mal einen Halbsatz wert. Dafür sollen Klima- und Energiepartnerschaften mit Ländern des Globalen Südens ausgebaut werden. Wenn diese gleichberechtigt konzipiert sind und eine konsequente Einbindung von Akteuren aus der Zivilgesellschaft gewährleisten, können sie in den beteiligten Ländern auch weitere Nachhaltigkeitsziele, die über den Klimaschutz hinausgehen, unterstützen.
Was will die neue Regierung in der Migrationspolitik ändern?
Angekündigt werden eine Reihe von Verbesserungen für Asylsuchende und Migrant:innen. So sollen zum Beispiel der Familiennachzug beschleunigt, der Spurwechsel von der Asyl- zur Erwerbsmigration wie auch die Einbürgerung erleichtert werden. Insgesamt ist den Koalitionären an einem einfacheren Zugang zum Arbeitsmarkt gelegen. Sie wollen die irreguläre Migration reduzieren und legale Migrationswege eröffnen. Aus unserer Sicht positiv ist, dass die Seenotrettung im Mittelmeer wiederaufgenommen werden soll. Unklar bleibt allerdings, wie die Migrationspartnerschaften mit Staaten des Südens gestaltet werden. Aus menschenrechtlicher wie entwicklungspolitischer Sicht ist die erklärte Absicht, Rückführungen und „freiwillige Ausreise“ beschleunigen zu wollen, sehr kritisch zu beurteilen.
Wie bewerten Sie die Vorhaben der Bundesregierung bezüglich des Umgangs mit der Corona-Pandemie insbesondere bezogen auf die Impfungerechtigkeit?
Das ist eine der großen Enttäuschungen dieses Koalitionsvertrags. Angesichts der anhaltenden Pandemie-Lage und dem Mangel an Impfstoffen in den ärmeren Ländern wäre ein klares Signal einer neuen Bundesregierung für die Unterstützung zeitlich begrenzten Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Impfstoffe notwendig gewesen. Ein solcher sogenannter Waiver wird seit mehr als einem Jahr von über 100 Staaten bei der Welthandelsorganisation nachdrücklich gefordert. Mit Maßnahmen wie „freiwilligen Produktionspartnerschaften“, die die Ampel jetzt vorschlägt, wird der in Armut lebenden Mehrheit der Weltbevölkerung der Zugang zu Impfstoffen noch lange verwehrt bleiben.
Was fehlt für Sie sonst noch im Koalitionsvertrag?
Eine konsequente Orientierung der gesamten Regierungspolitik an den Zielen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen wurde leider nicht eingelöst. Da hätten wir mehr erwartet. Zwar ist im Vertrag vereinzelt davon die Rede, dass die Politik sich an den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung (SDGs) ausrichtet, aber das ist eben nur mit Blick auf die einschlägigen Ressorts, der Umwelt- und der Entwicklungspolitik der Fall. Die Verantwortung aller anderen Ressorts dafür bleibt im Dunkeln. Die Vereinten Nationen hatten zu einem Jahrzehnt des Handelns aufgerufen. Doch die neue Bundesregierung lässt das vermissen, wenn die Agenda 2030 nicht Richtschnur des gesamten Regierungshandelns ist. Immerhin kündigt der Koalitionsvertrag an, die Governance-Struktur für die Umsetzung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie überprüfen zu wollen. Das werden wir aufmerksam beobachten.